Interview mit Lorenzo Custer
Raumpoet mit Betonallergie.
Nach einem Jahr in London kehrte Lorenzo Custer (75) Zürich den Rücken. lm Tessin untersuchte er Dorfstrukturen und machte sich für den öffentlichen Raum stark.
Aufgezeichnet: Marion Elmer, Foto: Urs Widmer, «Rückspiegel», Hochparterre 6-7/21
Ich habe immer das Traditionelle, das Harmonische gesucht, nicht die reine Sprache der Geometrie. Zwar habe ich an der ETH Zürich bei Bernhard Hösli studiert, der einem viel über Transparenz und moderne Architektur beigebracht hat. Als aber Lucius Burckhardt als Gastprofessor kam, wurde mir bewusst, dass die moderne Architektur nicht absolut ist.1969/70 studierte ich ein Jahr an der Architectural Association in London. Ich besuchte Vorlesungen bei Cedric Price, der Stumpen rauchte während er dozierte, um ihn herum zwanzig Studierende. Bei John Habraken kam ich erstmals mit der Idee des par tizipativen Wohnungsbaus in Berührung. Dieses Wissen kam mir später bei einem Projekt zugute, das ich für Renzo Piano in Corciano bei Perugia begleitete.
Nach London fand ich es in Zürich nicht mehr lustig. Es war die Zeit der Globuskrawalle. Ich ging nach Bedigliora im Malcantone, wo das Ferienhaus meiner Kindheit stand. In diesem Tessiner Dorf war im Kleinen eine Urbanität vorhanden, in der private Volumen den öffentlichen Raum formten und der öffentliche Raum die privaten Häuser ergänzte. Man weiss nicht, was zuerst da war. Für meine Diplomarbeit untersuchte ich die historische Struktur des Ortes und zeigte ihre Weiterentwicklung auf: den Höhelinien entlang, wie es das traditionelle Muster vor gibt, statt in einzelnen Parzellen.
Nach dem Studium eignete ich mir als Handlanger auf Baustellen praktisches Wissen an. Damals wusste ich nicht mal, was Beton ist. Später habe ich zusammen mit einem Baugeschäft Tausende Quadratmeter von Steindächern im Centovalli gebaut. Steindächer und Kalktechni ken begeistern mich bis heute. Aber auf Beton bin ich allergisch. Ich brauche ihn zwar, aber möglichst selten. Kalk hat eine ganz andere Ausstrahlung, er ist warm. Deshalb war es für mich ein ganz besonderes Unterfangen, zusam men mit dem Kalkspezialisten Ruedi Krebs die Stützmauer des Schlosses Grünenstein im St. Galler Rheintal wie deraufzubauen. Die 200 Meter lange und zum Teil vier Meter hohe Mauer war vor zirka sechzig Jahren mit einer dicken Zementkruste worden. Darunter konn te sie nicht mehr atmen und implodierte zusehends. Wir konnten die Mauer mit der ursprünglichen Luftkalktech nik neu aufbauen – ganz ohne Zement. Das Resultat ist umwerfend schön und wird wohl 200 Jahre halten.
Die Menschen vor Ort kennen die Probleme
Öffentlicher Raum ist auch architektonischer Raum, das geht meist vergessen. Es gibt nur wenige Architekten, die sich damit beschäftigen. Ich begann mich dafür zu engagieren, als der Kanton Tessin die Dorfstrasse be gradigen wollte, auf der meìne Kinder spielten. Mit unserem Gegenvorschlag erreichten wir, dass das Dorf statt der Begradigung eine Quartierbeiz bekam. Danach beriet ich mit der neu gegründeten andere Gemeinden bei der Verkehrsplanung. Die drei Gemeinden Giubiasco, Ca nobbio und Manno fanden über diese Beratungen zu mir. Dank visionärer, durchsetzungsfähiger Gemeindepräsi denten konnten wir den öffentlichen Raum in diesen Dörfern über die Jahrzehnte verbessern. Wichtig ist, dass die Erfahrung der Menschen vor Ort einfliesst, denn sie wis sen, wo die Probleme sind. Die Planer wissen nichts, weil sie im Büro sitzen. Ich habe mich nie gross hervorgetan. Mich freut es, wenn ein Projekt funktioniert. Wenn mir eine Frau auf der Piazza Grande in Giubiasco sagt, nun müsse sie nicht mehr nach Venedig fahren. Oder ein Gemeinderat in Canobbio, er fühle sich im eigenen Dorf wie in den Ferien.